6. Wie werden nicht-dystrophe
Myotonien diagnostiziert?

Die Diagnose der nicht-dystrophen Myotonien ist nicht schwer, wenngleich die Symptomatik zwischen den verschiedenen NDM-Formen überlappend und die Symptomschwere von Patient zu Patient unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Dies ist darauf zurückzuführen, dass nicht-dystrophe Myotonien zum einen eine Gruppe von Erkrankungen mit leicht unterschiedlicher Symptomatik darstellt, zum anderen, dass selbst innerhalb einer Erkrankung die Symptome von Patient zu Patient unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.

Die nicht-dystrophen Myotonien sind sehr seltenen Erkrankungen und daher kann es passieren, dass ein Arzt die Erkrankung nicht auf Anhieb erkennt. In Folge dessen, durchlaufen Betroffenen mitunter eine ganze Reihe von Fachärzten, bevor sie die richtige Diagnose erhalten. Dies kann unter Umständen, mehrere Jahre bis hin zu Jahrzehnten dauern. Ein Neurologe, welcher sich auf neuromuskuläre Erkrankungen spezialisiert hat, wird die Diagnose wahrscheinlich viel schneller stellen können.

„... als ich den Stress beim Schulsport nicht mehr aushielt, bin ich zu meinem Hausarzt gegangen... Dieser hatte glücklicherweise seine Doktorarbeit über die Myotonia congenita Thomsen geschrieben, so dass mir ein möglicherweise langjähriger Spießrutenlauf bei anderen Ärzten erspart wurde ...“ (Herr V.K. / Dortmund)

Übersicht über die Hauptuntersuchungen:

  • Anamnese: Befragung nach den Symptomen/Beschwerden des Patienten und Analyse der Vor- und Familiengeschichte
  • Blickdiagnose: gibt es auffällige körperliche Merkmale (Wadenhypertrophie, Typ Bodybuilder)
  • Motorische Tests: Klopfen auf den Handballen/Wade; Schnelles Schließen und Öffnen der Augen/Faust, eine Treppe hochgehen etc.
  • Elektrophysiologischer Test: Elektromyographie (EMG) mit Nachweis myotoner Entladungen
  • Genetischer Test

Anamnese

Als erster Anhaltspunkt ist die sogenannte Anamnese, d.h. Ihre Symptome und Ihre Vorgeschichte, enorm wichtig. Daraus kann der Neurologe/Arzt richtungsweisende Erkenntnisse gewinnen. Ein guter Hinweis kann zum Beispiel sein, dass Sie ihm von Ihren Problemen mit dem Öffnen der Haustür/Autotür oder den zugekniffenen Augen im Winter erzählen. Daher ist es sehr wichtig, dem Arzt auch vermeintlich normale, alltägliche Dinge oder Begebenheiten, die Ihnen unwichtig erscheinen, zu schildern. Ebenso können Muskelkrämpfe in ungewöhnlichem Setting bereits einen Hinweis auf eine Nicht-dystrophe Myotonie sein.

Blickdiagnose

Im weiteren Verlauf werden klinische Untersuchungen durchgeführt. Ihr Arzt wird Sie sich im ersten Schritt genauer anschauen- im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein sehr athletischer Körperbau mit einer ausgeprägten Wadenmuskulatur kann in Kombination mit Ihrer Anamnese ein starkes Indiz in Richtung Nicht-dystrophe Myotonie sein.

Motorische Tests

Möglicherweise werden Sie gebeten, die Augen oder die Hand für einige Sekunden fest zu schließen und sie danach so schnell wie möglich wieder zu öffnen- und dies ggf. mehrmals hintereinander schnell zu wiederholen (Warm-up Phänomen) (8,9). Auch das leichte Klopfen auf den Daumenballen oder die Wade kann eine Myotonie auslösen und ist ein einfacher, schmerzfreier Test (Perkussionsmyotonie) (11). Darüber hinaus können Sie auch gebeten werden, eine Treppe mehrfach hochzugehen. Eulenburg-Patienten schaffen dies oft nicht. Bei Thomson und Becker-Patienten kann man auch hier den Warm-up Effekt beobachten.

EMG

Eine elektrophysiologische Untersuchung der Muskulatur stellt die sogenannte Elektromyographie, kurz EMG, dar. Mit dieser Methode lässt sich klären, ob eine Erkrankung eine nervlich oder muskulär bedingte Ursache hat. Hierbei wird die elektrische Muskelaktivität mit Hilfe von Nadel-Elektroden gemessen und graphisch sowie akustisch dargestellt. Mit dem EMG lassen sich sogenannte myotone Entladungen entlarven (28). Das typische akustische Signal einer myotonen Entladung hört sich an wie ein startendes Motorrad (Kawasakigeräusch) und gibt einen unverkennbaren Hinweis auf eine Myotonie.

Gentest

Zur Absicherung der Diagnose wird am Ende eine genetische Untersuchung gemacht. Dazu benötigt man etwas Blut. Spezielle Labore führen diese genetischen Tests durch und bestätigen im Idealfall am Ende die Diagnose durch Nachweis bestimmter Mutationen im Erbgut (DNA). In den folgenden Abbildungen werden bekannte Mutationen in den Chlorid- und Natrium-Ionenkanälen gezeigt, die ursächlich für die nicht-dystrophen Myotonien sind.

Abbildung: Eine schematische Darstellung des Chloridkanals  CLCN-1. Der Chloridkanal besteht aus 18 Untereinheiten. Die Mutations-Orte, die zur Myotonia congenita (MC) Thomsen bzw. MC Becker führen, sind in orange bzw. türkis eingezeichnet. Im Gegensatz zu MC Thomson, welche dominant vererbt wird, wird die MC Becker rezessiv vererbt (9).

Es existieren mehr als 40 Mutationen in der α-Untereinheit des spannungsabhängigen Natriumkanals, was zu den folgenden autosomal-dominanten Erkrankungen führt: Paramyotonia congenita Eulenburg, kaliumsensitive Myotonie, hypokaliämische periodische Paralyse Typ2 (HypoPP Typ2), hyperkaliämische periodische Paralyse (HyperPP) (15,29). Das SCN4A-Gen (Natriumkanal, spannungsgesteuert, Typ IV alpha Untereinheit) kodiert für die alpha-Untereinheit skelettmuskulärer Natriumkanäle (Nav1.4).

Durch Mutationen im SCN4A-Gen (30) kommt es zu einer gestörten Inaktivierung des Natriumkanals mit vermehrtem Natriumeinstrom in die Muskelzellen. Dadurch wird das Ruhemembranpotenzial weniger negativ, sodass die Schwelle zur Auslösung eines Aktionspotenzials leichter erreicht wird. Dies dazu führt dazu, dass die Muskelfasern übererregbar werden; dies zeigt sich klinisch bzw. elektromyographisch als Myotonie (26,31,32).

Abbildung: Schematische Darstellung des Natriumkanals Nav1.4, der aus vier identischen Untereinheiten besteht. Je nach Lage können Mutationen in diesem Kanal zur Paramyotonia congenita Eulenburg, der Kalium-sensitiven Myotonie, hyperkaliämischen oder hypokaliämischen episodischen Lähmungen führen (9).

Literaturangaben: (8) Dunø M, Colding-Jørgensen E. Myotonia Congenita. 2005 Aug 3 [Updated 2015 Aug 6]. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, et al., editors. GeneReviews® [Internet]. Seattle (WA): University of Washington, Seattle; 1993-2020. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1355/ | (9) Lehmann-Horn F, et al. Acta Myol 2008;27:98–113 | (11) Hudson AJ, Ebers GC, Bulman DE. The skeletal muscle sodium and chloride channel diseases. Brain. (1995) 118(Pt 2):547–63. doi: 10.1093/brain/118.2.547 | (15) Schneider-Gold C. et al., (2017) S1-Leitlinie Myotone Dystrophien, nicht dystrophe Myotonien und periodische Paralysen. 2017. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 18.03.2020) | (26) Heatwole CR, et al. Muscle Nerve 2013;47:632–48 | (28) Bischoff C., Schulte-Mattler W.J., Das EMG-Buch, 4., überarbeitete Auflage 2015, 344 S. , 298 Abb., ISBN: 9783131103444 | (29) Xinglong Y., Hua J., Ran A., Jing X. & Yanming X. (2017) Sequence CLCN1 and SCN4A in patients with Nondystrophic myotonias in Chinese populations: Genetic and pedigree analysis of 10 families and review of the literature, Channels, 11:1, 55-65, DOI: 10.1080/19336950.2016.1212140 | (30) Spuler S., von Moers A. (2004) Muskelkrankheiten Grundlagen, Diagnostik und Therapie, Schattauer, ISBN 3-7945-2204-4 | (31) Mitrović N, George AL Jr, Lerche H, Wagner S, Fahlke C, Lehmann-Horn F. Different effects on gating of three myotonia-causing mutations in the inactivation gate of the human muscle sodium channel. J Physiol. 1995;487(1):107–114. doi:10.1113/jphysiol.1995.sp020864 | (32) Hayward LJ, Brown RH jr., Cannon SC,. J Gen Physiol 1996;107:559–76