5. Was sind die Ursachen für
eine nicht-dystrophe Myotonie?

Unsere Bewegungen werden durch die Muskeln gesteuert und das geschieht entweder gewollt oder unbewusst (Reflex). Damit sich der Muskel bewegen kann, benötigt er ein Signal, welches er von einer mit ihm verbundenen Nervenzelle bekommt. Eine Nervenzelle kann dabei bis zu 1.000 Muskelfasern ansteuern und ihnen das entsprechende Signal senden.

Das elektrische Signal der Nervenzelle reizt die Muskelzelle, sich zusammenzuziehen. Damit die Reizweiterleitung vom Nerven auf den Muskel einwandfrei funktioniert, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. Wichtig sind bestimmte Transportkanäle für kleine, elektrisch geladene Teilchen (Ionen) in der Zellhaut (Membran) der Muskelzelle. Sie lassen die Ionen in die Zelle hinein bzw. hinaus. Für die Muskelan- und entspannung wichtige Ionenkanäle sind unter anderem die Natrium- und Chloridionenkanäle. Diese Ionenkanäle reagieren auf die Reizweiterleitung und der sich dadurch veränderten elektrischen Spannung und öffnen sich.

Durch die geöffneten Transportkanäle können die Ionen in das Innere der Muskelzelle gelangen und die Muskelanspannung auslösen. Nach sehr kurzer Zeit schließen sich die Kanäle wieder, der Ursprungszustand wird unter Einbeziehung weiterer Ionenkanäle wiederhergestellt und der Muskel entspannt sich. Kommt es jetzt auf Grund eines Fehlers im Erbmaterial zu einer Schädigung im Aufbau der Natrium- oder Chloridkanäle, kann sich der Muskel nur mit einer starken Verzögerung entspannen oder lässt sich viel leichter anregen sich zusammenzuziehen und angespannt zu bleiben(3) - der Muskel steht unter „Dauerfeuer“ (s. Ionenkanalfehlfunktionen).

Fehlfunktionen in den Natrium- und Chlorid-Kanälen in der Muskulatur führen zu einer verlängerten Repolarisation und damit einer verlangsamten Entspannung bzw. einer Übererregbarkeit der Muskelfaser (27). Geschädigte Natriumkanäle führen dazu, dass nach einem erfolgten Aktionspotential (Signal für den Muskel sich zu kontrahieren) zunächst weiterhin Natriumionen ins Zellinnere gelangen können, bevor der Kanal sich schließt und sich der Muskel schließlich entspannt (verlangsamte Inaktivierung der Natriumkanäle).

Im Fall von geschädigten Chloridkanälen ist die Leitfähigkeit für Chloridionen ins Zellinnere verringert, was zu einer Instabilität des Ruhepotentials (Ruhezustand) führt und das Zellinnere positiver werden lässt. In beiden Fällen ist das Resultat des Kanaldefektes ein im Vergleich zu Gesunden zu positives Zellinnere, was die Muskelzellen leichter erregbar macht. Dies führt im Anschluss an das initiale Aktionspotential zu Nachpotentialen. Man könnte auch sagen, dass der Muskel unter Dauerfeuer steht und sich deshalb nicht entspannen kann.

Abbildung A: Normale Muskelkontraktion. Ein elektrischer Impuls, der von der Nervenzelle auf die Muskelfaser übertragen wird, löst ein Aktions­potential (AP) aus. Dieses führt zur Anspannung (Kontraktion) des Muskels. Solange der Muskel sich, ausgelöst durch einen elektrischen Reiz (AP), anspannt, kann kein neuer Reiz verarbeitet werden. Nach kurzer Zeit entspannt sich der Muskel wieder (Latenzphase), danach kann ein erneuter Reiz verarbeitet werden..

Abbildung B: Myotone Muskelaktion. Bei myotonen Erkrankungen löst der elektrische Impuls infolge der defekten Ionenkanäle nicht nur einen Reiz aus, sondern in kurzer Folge mehrere nachfolgende Reize. Dies führt zu einer andauernden Muskelanspannung. Dieses Phänomen bezeichnet man als myotone Entladungen (s.u.). Gleichzeitig kommt es zu einer verlangsamten Entspannung des Muskels (26).

Wichtig für eine akkurate Reizweiterleitung entlang der Membran der Muskelzelle ist das sogenannte Ruhepotential (22): In diesem Ruhezustand befinden sich außerhalb der Zelle vielmehr positive Teilchen als im Zellinnern. Man spricht daher auch von einem negativen Ruhepotential (-70 mV), da das Innere der Muskelzelle im Vergleich zur Außenseite negativ geladen ist.

Abbildung: Arbeitsmodell eines spannungsabhängigen Natriumkanals (23)

Ein elektrischer Impuls, der von der Nervenzelle auf die Muskelfaser übertragen wird, führt dazu, dass sich zuerst die Natriumkanäle in der Zellmembran sehr schnell öffnen und viele positive Teilchen (Na+-Ionen) ins Zellinnere gelangen. Das ehemals negative Ruhepotential wird sehr schnell positiv (24). Diese Ladungsveränderung löst ein sogenanntes Aktionspotential aus (25), also ein elektrisches Startsignal, welches der Muskelfaser den Anreiz gibt sich zusammenzuziehen.

Nach erfolgtem Aktionspotential, schließen sich die Natriumkanäle schnell wieder. Das Zusammenspiel von Natrium- und Chloridkanälen, sowie anderer Ionenkanäle und -transporter führt zu einer Repolarisation, der Muskel entspannt sich und das Ruhepotential wird wieder hergestellt. Die Muskelfaser kann erneut zur Kontraktion gebracht werden, wenn ein entsprechendes Signal vom Nerv kommt.

Abbildung: Darstellung einer menschlichen Zelle. In der Zellmembran befinden sich verschiedene Ionenkanäle, die selektiv Natrium-, Kalium- und Chloridionen die Zelle hinein und aus ihr heraustransportieren. Im Ruhezustand befinden sich außerhalb der Zelle mehr positiv geladene Teilchen als in der Zelle. Dies entspricht dem negativen Ruhepotential. Gelb= Natrium-Ionen, Rot= Kalium-Ionen, Grün= Chlorid-Ionen, Lila Kanal=Chloridkanal, Dunkelgrüner Kanal= Kalium-Kanal, Türkiser Kanal= Natriumkanal, Türkis-Dunkelgrüner Kanal= Kalium/Natrium Ionenpumpe.

Literaturangaben: (20) Trivedi, J. R., Bundy, B., Statland, J., Salajegheh, M., Rayan, D. R., Venance, S. L., Wang, Y., Fialho, D., Matthews, E., Cleland, J., Gorham, N., Herbelin, L., Cannon, S., Amato, A., Griggs, R. C., Hanna, M. G., Barohn, R. J., & CINCH Consortium (2013). Non-dystrophic myotonia: prospective study of objective and patient reported outcomes. Brain : a journal of neurology, 136(Pt 7), 2189–2200. https://doi.org/10.1093/brain/awt133 | (21) https://de.wikipedia.org/wiki/Ionenkanal | (22) https://de.wikipedia.org/wiki/Ruhemembranpotential | (23) https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/natriumkanaele/45413 | (24) https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-332015/ionentransport-im-dienst-der- gesundheit/ | (25) https://de.wikipedia.org/wiki/Aktionspotential | (26) Heatwole CR, et al. Muscle Nerve 2013;47:632–48 | (27) Matthews, E., Fialho, D., Tan, S. V., Venance, S. L., Cannon, S. C., Sternberg, D., Fontaine, B., Amato, A. A., Barohn, R. J., Griggs, R. C., Hanna, M. G., & CINCH Investigators (2010). The non-dystrophic myotonias: molecular pathogenesis, diagnosis and treatment. Brain : a journal of neurology, 133(Pt 1), 9–22. https://doi.org/10.1093/brain/awp294