3. Welche Arten von nicht-dystropher
Myotonie gibt es?

Die nicht-dystrophen Myotonien werden zunächst anhand ihrer Ursache in Natrium- bzw. Chloridkanal-Störungen eingeteilt. Eine weitere Unterscheidung in Myotonia congenita Typ Becker bzw. Thomson erfolgt meist über die betroffenen Muskelgruppen sowie eine genetische Untersuchung. Bei den Natriumkanal-Störungen wird in die Paramyotonia congenita (Eulenburg), die kaliumsensitive Myotonien (PAM) sowie die dyskaliämischen periodischen Lähmungen unterschieden (6).

Abbildung: Klassifizierung der nicht-dystrophen Myotonien; Darstellung erstellt nach: Lehmann-Horn F, et al. Acta Myol 2008;27:98–113 (9)

3.1 Myotonia congenita Becker

Die Myotonia congenita (MC) Becker ist eine vererbte Störung der Muskelfunktion und gehört zu den so genannten Myotonien. Sie ist nach dem deutschen Arzt Peter Emil Becker benannt und die einzige nicht-dystrophe Myotonie die autosomal-rezessiv vererbt wird (7). Autosomal- rezessiv heißt, dass in diesem Fall beide Allele des CLCN1-Gens, welches für einen muskulären Chloridionenkanal kodiert, auf Chromosom 7 geschädigt sein müssen. Dabei ist das gleiche Gen wie bei Thomson mutiert, aber an einer anderen Stelle. Die Prävalenz der MC Becker liegt bei 1 : 25 000 (8).

Bei der Vererbung der Erkrankung gibt es verschiedene Konstellationen, welche unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für die Erkrankung der Nachkommen nach sich ziehen. Ferner werden die Wahrscheinlichkeiten einer Trägerschaft des Erbfehlers aufgezeigt (siehe Tabelle). Ist man Träger des Gendefektes auf nur einem der zwei Allele, so erkrankt man selber nicht, kann jedoch diesen Gendefekt vererben. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick zu den Wahrscheinlichkeiten. 

Elternteil 1
Elternteil 2 erkrankt Träger gesund
erkrankt 100% erkrankt 50% erkrankt,
50% Träger
100% Träger
Träger 50% erkrankt,
50% Träger
50% erkrankt,
25% Träger,
25% gesund
50% Träger,
50% gesund
gesund 100% Träger 50% Träger
50% gesund
100% gesund

Legende:

  • erkrankt bedeutet: beide Allele sind betroffen und Myotoniesymptome treten auf und können vererbt werden
  • Träger bedeutet: ein Allel ist betroffen, keine Myotoniesymptome. ABER der Defekt kann vererbt werden.
  • gesund bedeutet: beide Allele gesund, kein Symptome

Abbildung: Hauptsächlich betroffene Muskel­gruppen bei der MC Becker. In orange sind die stark betroffenen Bereiche, in türkis die weniger stark betroffenen Muskel­gruppen dargestellt.

Die Myotonia congenita Becker beginnt bereits in der Kindheit (Einschulungsalter oder älter), also etwas später als die Myotonia congenita Thomson. Jedoch ist die Myotonie meist stärker ausgeprägt (8,9). Hiervon betroffen sind vor allem die unteren Extremitäten, d.h. die Waden, Oberschenkel und der Gesäßmuskel. Hinzu kommt oftmals eine vorübergehende Schwäche infolge einer Muskelkontraktion (nach einer Pause). Dies kann zu einer Einschränkung der manuellen Geschicklichkeit führen und ist meist mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden. Auch hier tritt der „Warm-Up-Effekt“ auf, das heißt die Muskeln funktionieren nach wiederholter Beanspruchung normal, solange sie in Bewegung bleiben (8,9).

Auffallend bei der MC Becker und der MC Thomsen ist der scheinbar sehr athletische Körperbau (Typ Herkules/Bodybuilder) (9). Die Muskeln erscheinen sehr stark/groß, sind jedoch in Wahrheit schwächer als bei gesunden Menschen.

3.2 Myotonia congenita Thomsen

Bei der Myotonia congenita (MC) Thomsen, erstmals beschrieben von dem dänischen Arzt Thomsen (10), treten die ersten Krankheitssymptome meist bereits im frühesten Kindheitsalter auf. Von der Myotonie sind vor allem die oberen Extremitäten (Arme und Gesicht) betroffen. Die Patienten klagen sehr oft über Handgriff- und Lidschlussmyotonie. Der Nachweis der Myotonie kann in diesen Fällen über ein Klopfen auf den Daumenballen oder die Wade (Perkussionsmyotonie) erfolgen (11).

Die Muskelsteifigkeit zeigt sich besonders ausgeprägt nach Ruhephasen, in Kälte und unter emotionalem Stress. Bei der Thomsen Myotonie tritt das Symptom der Muskelschwäche seltener auf. Dagegen können Versteifungen der Ellenbogen- und Fußknöchelgelenke wegen der Fehlbelastung auftreten(4) und das normale Leben zusätzlich erschweren.

Die MC Thomsen wird dominant vererbt (8), wodurch es ausreicht wenn ein Elternteil den genetischen Defekt überträgt. Auffallend bei der MC Thomsen und der MC Becker ist der sehr athletische Körperbau (Typ Herkules/Bodybuilder) (8). Die Muskeln erscheinen sehr groß, sind jedoch in Wahrheit schwächer als bei gesunden Menschen.

Eine differentialdiagnostische Abgrenzung zu MC Becker ist nicht immer eindeutig über die Symptomatik möglich, so dass oftmals die genetische Abklärung vor allem in Hinblick auf den Erbgang ausschlaggebend ist.

Abbildung: Hauptsächlich betroffene Muskel­gruppen bei der MC Thomsen. In orange sind die stark betroffenen Bereiche, in türkis die weniger stark betroffenen Muskel­gruppen dargestellt.

3.3 Paramyotonia congenita Eulenburg

Die Paramyotonia congenita, auch bekannt unter dem Namen des Arztes der die Erkrankung beschrieben hat, Eulenburg(12), ist eine weitere nicht-dystrophe Myotonie. Sie wird ebenfalls dominant vererbt. Die Ursache dieser Myotonie sind allerdings Defekte in den Natriumkanälen der Skelettmuskulatur.

Die ersten Symptome können sich bereits im Säuglings- bis Kleinkindalter zeigen und betreffen überwiegend die Muskulatur der Augenlider, der Zunge, des Gesichts und der oberen Extremitäten (9).

„...Mein Sohn hat Muskelsteife vor allem in den Beinen seit (dem) Säuglingsalter, Schwäche in den Armen ebenfalls so lange, später Schwächeperioden - vor allem ... nach körperlichen Belastungen, welche den Schulbesuch zu einem echten Problem werden ließen...“ (Frau B. / Raum Wetzlar)

Kinder haben beispielsweise das Gefühl einer „gefrorenen Zunge“ nachdem sie Eis gegessen haben oder auch Probleme die Augen zu öffnen, wenn sie mit kaltem Wasser in Berührung gekommen sind (5). Mit zunehmender Wiederholung der Muskelkontraktion verschlimmert sich die Myotonie, weshalb man in diesem Fall auch von paradoxer Myotonie (9) spricht. Durch Kälte, wiederholte Übungen, vermehrte Kaliumaufnahme über das Essen oder Fasten ausgelöst, kann es auch zu einer Muskelschwäche kommen, die über mehrere Minuten anhält.

Im Gegensatz zu den Chloridkanal-Myotonien (Becker und Thomsen) sehen die betroffenen Eulenburg-Patienten seltener übermäßig muskulös aus.

Abbildung: Hauptsächlich betroffene Muskelgruppen bei der PMC. In orange sind die stark betroffenen Bereiche, in türkis die weniger stark betroffenen Muskelgruppen (4) dargestellt.

Bei operativen Eingriffen sollte eine Abkühlung vermieden werden, da dies eine myotone Reaktion auslösen kann. Bei einem Sprung ins kalte Wasser kann es zu einer generalisierten Myotonie mit anschließender lang andauernder Paralyse kommen. Kaliumreiche Lebensmittel sollten nach Möglichkeit nur in Maßen verzehrt werden, da auch diese eine Myotonie verstärken können (Papaya, Mango, Bohnen, Trockenfrüchte und Cola) (14).

„... Da ich schon lange übergewichtig bin, hieß es immer "der Fette komme die Treppen nicht hoch..." Jeder von euch kennt es wahrscheinlich, dass man sich vor jedem Ausflug Gedanken darüber macht, wo womöglich eine Treppe auf mich wartet, die ich dann blöderweise erklimmen muss...“ (Herr K. aus Dortmund)

3.4 Kalium sensitive Myotonie & Dyskaliämische episodische Lähmungen

Neben der Eulenburg  gibt es noch weitere, sehr seltene nicht-dystrophe Myotonien (NDM) die auf Mutationen in den Natriumkanälen der Skelettmuskulatur zurückzuführen sind. Zu diesen dominant vererbten Erkrankungen zählen die kaliumsensitiven Myotonien (PAM) und die dyskaliämischen episodischen Lähmungen (9).

Bei den kalium-sensitiven Myotonien schwankt der Schweregrad der Myotonie sehr stark. Man unterscheidet zwischen der milder verlaufenden Myotonia fluctuans und der schwerwiegenderen Form Myotonia permanens (6,15). Bei der Myotonia fluctuans besteht typischerweise keine Muskelschwäche (im Gegensatz zur PMC) und in geringem Maße eine Kältesensitivität (9). Eine Sonderform der Myotonia fluctuans stellt die Acetazolamid-sensitive Myotonie dar, bei der betroffene Patienten sehr gut auf Acetazolamid ansprechen (16).

Die Myotonia permanens ist die nicht-dystrophe Myotonie mit der am Stärksten ausgeprägten Form der Myotonie. Dies bedeutet, dass betroffene Patienten auf Grund von starken Verkrampfungen der Atem­muskulatur (Atem­insuffizienz) zum Teil lebens­bedrohliche Zustände erleiden (17).

Wie der Name schon sagt zeichnen sich die kalium-sensitiven Myotonien dadurch aus, dass die Myotonie durch eine erhöhte, orale Kaliumzufuhr verstärkt wird. Daher sollten die betroffenen Patienten bestimmte kaliumreiche Nahrungsmittel wie Trockenfrüchte, Nüsse, alle Kohlsorten, Tomaten, Mandeln, Dinkel, Roggen meiden (1,9,13).

Den Nicht-dystrophe Myotonien nahestehnde Erkrankungen sind die dyskaliämischen episodischen Lähmungen. Diese lassen in die hyper- bzw. hypokaliämischen episodischen Lähmungen unterteilen, welche teilweise ebenfalls auf einen Defekt in den muskulären Natriumkanälen zurückzuführen sind. Pathophysiologisch äußern sich die dyskaliämischen episodischen Lähmungen vor allem als stark ausgeprägte Muskelschwäche bis hin zu vorübergehenden Lähmungen (18,19). Die ersten Symptome (Lähmungen) treten üblicherweise im frühen Erwachsenenalter auf. Die Häufigkeit der Lähmungen variiert dabei von Patient zu Patient stark - von einmal im Leben bis hin zu täglich (9). Neben den Lähmungen sind Myotonien ein weiteres Symptom dieser Erkrankungen. Charakteristischer Weise wird die Myotonie durch bestimmte Trigger ausgelöst (Ruhe nach Belastung, Temperatur, Serum-Kaliumspiegel). (15).

Literaturangaben: (1) Hahn C., Salajegheh MK. (2016) Myotonic disorders: A review article, Iran J Neurol. 2016 Jan 5; 15(1): 46–53 | (4) Wang Y, Statland J, Walsh RJ, Brundy B, Barohn RJ, Herbelin L, et al. Clinical phenotype characterization of nondystrophic myotonias [abstract]. J Clin Neuromusc Dis 2008c; 9: 367. | (5) Khadilkar S.V. et al., Neuromuscular Disorders, Springer 2018, p. 311-317 | (6) Morales F and Pusch M (2020) An Up-to-Date Overview of the Complexity of Genotype- Phenotype Relationships in Myotonic Channelopathies. Front. Neurol. 10:1404. doi: 10.3389/fneur.2019.01404 | (7) Becker PE. Zur Genetik der Myotonien. In: Kuhn E, editor. Progressive Muskeldystrophie– Myotonie–Myasthenie. Berlin: Springer Verlag (1966). p. 247–55. | (8) Dunø M, Colding-Jørgensen E. Myotonia Congenita. 2005 Aug 3 [Updated 2015 Aug 6]. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, et al., editors. GeneReviews® [Internet]. Seattle (WA): University of Washington, Seattle; 1993-2020. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1355/ | (9) Lehmann-Horn F, et al. Acta Myol 2008;27:98–113 | (11) Hudson AJ, Ebers GC, Bulman DE. The skeletal muscle sodium and chloride channel diseases. Brain. (1995) 118(Pt 2):547–63. doi: 10.1093/brain/118.2.547 | (12) Eulenburg A. Ueber eine familiare, durch 6 Generationen verfolgbare Form kongenitaler Paramyotonie. Neurologisches Centralblatt 1886;5: 265–72 | (13) Baur C.P., Schara U., Schlecht R., Georgieff M., Lehmann-Horn F., Anästhesie bei neuromuskulären Erkrankungen, Tiel 2, Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37(3): 125-137, DOI: 10.1055/s-2002-21805 | (14) E. Mutschler, M. Schäfer-Korting: Arzneimittelwirkungen. Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. 7. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1996, ISBN 3- 8047-1377-7. | (15) Schneider-Gold C. et al., (2017) S1-Leitlinie Myotone Dystrophien, nicht dystrophe Myotonien und periodische Paralysen. 2017. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 18.03.2020) | (16) Heatwole CR, Moxley RT 3rdThe nondystrophic myotonias. Neurotherapeutics 2007; 4:238–251. | (17) Lehmann-Horn F, Rüdel R, Jurkat-Rott K. Nondystrophic myotonias and periodic paralysis. In: Engel AG, Franzini-Armstrong C, eds. Myology, 3rd ed. New York: Mc Graw-Hill, 2004. | (18) Venance SL, Cannon SC, Fialho D, Fontaine B, Hanna MG, Ptacek LJ, et al., and the CINCH investigators. The primary periodic paralyses: Diagnosis, pathogenesis and treatment. Brain 2006;129:8–17. | (19) Cannon SC. Voltage-sensor mutations in channelopathies of skeletal muscle. J Physiol. 2010; 1;588:1887–95.